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Arbeiteraufstand 17. Juni

Posted on: Juni 17th, 2016 by Melchior-Christoph von Brincken
17 Juni 1953

17 Juni 1953

Zum Gedenken des 17. Juni.

Autor: Nemetico  /  Quelle: Linkeseite.de

„Die wahren Kommunisten seid nicht ihr, sondern das sind wir!“

17. Juni? War da nicht mal was? Wurde dieses Datum nicht mal „Tag der Deutschen Einheit“ genannt?

Richtig.

Bis 1989 war der 17. Juni in Westdeutschland Feiertag. 1990 dekretierte die damalige Kohl – Regierung, daß der formelle Anschluß der ehemaligen DDR am 3. Oktober zu erfolgen habe und daß ab da dieser 3. Oktober der „Tag der Deutschen Einheit“ sein solle. Es handelt sich um die Merkwürdigkeit, daß ein Nationalfeiertag nicht etwa ein historisches Ereignis rückblickend würdigt, sondern vielmehr handelte es sich um die Festlegung eines Feiertages im Voraus (Mitte 1990).

Entsprechend auch die allgemeine Begeisterung um diesen seltsamen Feiertag.

Doch wir wollen über den 17. Juni sprechen, welcher bis 1989 der offizielle Feiertag der West – BRD war.
„17. Juni 1953 – Aufstand in der DDR, kein Aufstand in der BRD, seitdem Tag der deutschen Einheit“
So wurde von weiten Teilen der westdeutschen Linken dieser Feiertag gewürdigt. Aber was geschah wirklich am 17. Juni 1953?

Szenario 1945 – 1953

Selbst bis heute dauert eine „legendäre“ statt eine wissenschaftliche Sicht der Nachkriegszeit an, welche man auch als die Ära des „Kalten Krieges“ bezeichnet. Im sogenannten „Westen“ wurde eine Weltsicht gehegt, wonach jenseits des „eisernen Vorhanges“ der „Kommunismus“ genannte leibhafte Satan regierte und diesseits das lichte Reich der Engel errichtet war. Entsprechend wurden alle zeitgeschichtlichen Ereignisse in dieses Gut – Böse – Schema eingeordnet. So waren die antikolonialen Freiheitskämpfe der asiatischen Völker (Indochina, Indonesien etc.) natürlich „kommunistische“ Subversionen, während die Putschisten und Söldner in Lateinamerika, die eine us-hörige Militärdiktatur nach der anderen etablierten, als freiheitsliebende Demokraten galten. In Korea kämpften 1950-53 nicht etwa koreanische Nationalisten gegen ehemalige Kollaborateure Japans, sondern „Kommunisten“ gegen „Demokraten“.

Mit dem 17. Juni 1953 wurde auch ein Arbeiteraufstand gegen ein arbeiterfeindliches Regime zu einem Freiheitskampf für die deutsche Einheit verklärt. Und er mußte sogar als „Feiertag“ bis 1989 herhalten für die Geschichtslegenden des Imperiums.

Es ist gar nicht so leicht, unter dem ganzen Kleister und Propagandalack sich der historischen Wahrheit zu nähern.
Unstrittig ist: Stalins Herrschaft war eindeutig eine Diktatur. In ihren Formen und Methoden schöpfte sie nicht etwa aus der Tradition der Arbeiterbewegung und des Sozialismus, sondern vielmehr aus einer
uralten russischen Tradition, nämlich dem Zarismus.
Es ist kein Zufall, daß Sergej Eisenstein, der legendäre Filmemacher, Stalin (durchaus in dessen Sinne) als Wiedergänger von Iwan dem Schrecklichen portraitierte. In dieser Auftragsarbeit liegen mehr Parallelen als es auf den ersten Blick so aussieht. Durch Reformen von Verwaltung, Rechtswesen und Armee stärkte Iwan der Schreckliche im 16. Jahrhundert die Zentralgewalt des Zaren und förderte den niederen Dienstadel auf Kosten der mächtigen Bojaren. Es kam im Zuge der Isolierung der russischen Revolution zur Entstehung einer Variante dessen, was manche Historiker eine „asiatische Despotie“ nennen.

Stalins Regime hatte ungleich mehr Merkmale dieses historischen Vorläufers anstelle von Charakteristika, die man vor Stalin „sozialistisch“ genannt hätte. Zwar war die russische Wirtschaft
weitgehend verstaatlicht (könnte man notdürftig als „sozialistisch“ bezeichnen), aber gleichzeitig auch despotisch-bürokratischen Strukturen unterworfen. Ideologisch allerdings gab sich das Regime immer noch als „sozialistisch“ aus, erklärte sich gegenüber den Kommunisten weltweit zum Mutterland der Revolution, obwohl diese spätestens mit den Moskauer Schauprozessen längst politisch liquidiert war. Der Staat, der als Arbeiter- und Bauernstaat begründet worden war, wurde gewissermaßen Privatbesitz einer Schicht, die man bisweilen Nomenklatura genannt hat und deren eigentlicher Schöpfer Stalins Regime war, jenes Regime, das sich in echter zaristischer Tradition in immerfort währenden Säuberungen ständig sowohl erneuerte als auch beständig selbst liquidierte.

Dieser widersprüchliche Charakter mußte sich notwendigerweise geradezu gewittermäßig entladen in einem Land, das vor der russischen Revolution (die der Stalinschen Degeneration anheim gefallen war) als das Mutterland des Sozialismus gegolten hatte: in Deutschland nämlich, wo die erste Arbeiterpartei begründet worden war und das ja das Geburtsland von Marx und Engels war.

Blicken wir zurück ins Jahr 1945.

Nach der Kapitulation des von den Nazis regierten deutschen Reiches wurde Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt: eine britische Zone, eine US – Zone, eine französische und eine russische. Schon unmittelbar nach dem Krieg zeichnete sich der bevorstehende „Ost-West-Konflikt“ ab.

Die deutsche Teilung

Es ist an dieser Stelle wichtig zu betrachten, wie es überhaupt zur deutschen Teilung gekommen war. Eine von den konservativen Eliten der BRD sorgfältig gepflegte Legende war die, daß „der Kommunismus“ (sprich: das SED – Regime und die UdSSR) für die deutsche Teilung nach 1945 verantwortlich gewesen wäre. Rein von den Fakten her läßt sich das in keiner Weise belegen.
Schon 1946 begannen die westlichen Besatzungsmächte durch die Bildung der Bizone und dann der Trizone zügig mit der separaten Bildung eine westdeutschen Separatstaates. Die „Ostzone“ wurde gewissermaßen aus der Konstituierung der BRD ausgesperrt. Das war Kalkül. Die Gründung der BRD erfolgte allein schon zeitlich vor der Gründung der DDR. Es gab zu keinem Zeitpunkt den Versuch von Seiten der Westmächte, etwa eine verfassungsgebende Nationalversammlung einzuberufen. Die sogenannten „Väter des Grundgesetzes“ waren die Angehörigen des sogenannten Parlamentarischen Rates, welcher von den Länderparlamenten der Westzonen bestückt wurde, und zwar auf Anweisung der drei Westmächte, Frankreich, Großbritannien und USA. Betrachtet man allein nur diese Fakten und ihre Zeitachse, kann kein Zweifel daran bestehen, daß die deutsche Teilung von westlicher Seite bereits ab 1947 zielsicher angestrebt wurde.

Die UdSSR unter Stalin hatte in der Nachrkriegszeit ein begreifliches Interesse daran, nicht mehr in Kriegshandlungen verstrickt zu werden. Das Stalinsche System brauchte Ruhe an den äußeren Fronten. Der zweite Weltkrieg hatte der UdSSR ungeheure Blutopfer und Verwüstungen abverlangt (über 20 Millionen), die Industrie diesseits des Ural war schwer zerstört, weite Landstriche in Weißrussland oder der Ukraine waren verwüstet.
Stalin hatte großes Interesse an einem neutralisierten Deutschland und brachte dies auch immer wieder durch Stalinnoten zu Ausdruck. Im wesentlichen schlugen diese Stalinnoten die Abhaltung von freien Wahlen in Gesamtdeutschland, die Wiedervereinigung, den Abzug aller Besatzungsmächte und die Schaffung eines neutralen Deutschland (keine Mitgliedschaft in Militärbündnissen, die sich gegen einen der Siegermächte richteten) vor. Das war etwas, was große Teile der deutschen Bevölkerung in Ost und West wollten und was der erstarkende amerikanische Imperialismus, aber auch die niedergehenden Imperialismen in Frankreich und Großbritannien fürchteten wie der Teufel das Weihwasser.

Andererseits wurde dieser Vorschlag eines gewissermaßen finnlandisierten Deutschland (auch Österreich war hier ein Beispiel, zuerst in vier Zonen geteilt, dann wiedervereinigt und neutralisiert) von einem Polizeistaat vorgebracht, der sich zur Freude der westlichen Plutokratien auch noch „sozialistisch“ nannte und somit als Schreck- und Feindbild trefflich taugte.

Es begann eine der größten Operationen von „Wahrnehmungsmanagement“ in der europäischen Geschichte. Die „westliche“ Propaganda und die ihr willfährigen Politik- und Geschichtswissenschaftler erklärten diese Stalinnoten zu einem „taktischen Manöver“ (will heißen: eine nicht ernst gemeinte Finte). Die Behauptung Adenauers, dass Stalins Angebot nicht ernst gemeint war, wurde von des „westlichen“ Eliten weit und breit und vor allem gern geteilt. Denn die Teilung Deutschlands war im Westen spätestens seit 1947 fest geplant und Adenauer wollte unter allen Umständen die Westintegration. Nur die „Schuld“ daran mußte unbedingt dem „Osten“, also dem „Kommunismus“ (gemeint: Stalinismus) zugeschoben werden.

In großen Zügen gelang diese großangelegte Psy – Op – Strategie, im wesentlichen deswegen, weil das stalinistische SED – Regime kräftig dabei mithalf, im Prinzip zwar wider Willen sicherlich, aber nichtsdestoweniger eifrig und sehr effizient. Es gelang den „Westmächten“, die UdSSR systematisch unter Zugzwang zu setzen, die Devise hieß „Roll-back“ und „Containment“. Die forcierte Gründung der West – BRD, die mittels Marshallplan kapitalistisch aufgepäppelt wurde, zwang das Stalinregime aus strategischen Gründen zur Formierung einer Pufferzone in Europa. Damit einher ging die Gründung von „Volksrepubliken“ in Polen, Ungarn, Rumänien, usw., die letztlich nichts anderes als stalinistische Marionettenstaaten darstellten. So war auch die Gründung der DDR 1949 im Grunde eine erzwungene, erzwungen durch die vollendete Tatsache der BRD – Proklamation.

Die Ostzone einfach aufzugeben, ohne auf die Neutralisierung zu bestehen, hätte für die UdSSR bedeutet, sie der us-imperialen Vorherrschaft auszuliefern, ein Zustand, der genau so heute ja gegeben ist. Unser wiedervereinigtes Deutschland ist letztlich doch nichts anderes als ein lächerlicher Vasall des US – Imperiums.

Insgesamt war die deutsche Teilung also Produkt einer sehr erfolgreichen westimperialen Strategie. Sie zwang die sowjetische Besatzungsmacht, mit der DDR ein Marionettenregime zu installieren, das zwar noch von der Tradition der KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) profitieren konnte, diesen Kredit aber Zug und Zug verspielen mußte. Denn ein demokratisches sozialistisches System, wie es die überwiegende Mehrheit der Arbeiterschaft nach dem Krieg forderte und erhoffte (ich erinnere allein nur an das Ahlener Programm der CDU), konnte ebenso wenig im Interesse der stalinistischen Bürokraten liegen wie der westlich-kapitalistischen Eliten.

Der Weg zum 17. Juni

Am 9. – 12. Juli 1952 verkündete Generalsekretär Walter Ulbricht auf der 2. Parteikonferenz der SED den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus in der DDR“, was nichts anderes als ein euphemistischer Ausdruck dafür war, daß das Stalin – Regime in einer Mini – Kopie reproduziert werden sollte. Mit Sozialismus in der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung hatte das indes nicht mehr viel zu tun. Damit wurde seitens Stalin der Tatsache Rechnung getragen, daß die deutsche Teilung nicht mehr rückgängig zu machen war. Es mußte also ein stabiles SU-höriges Marionettenregime geschaffen werden. Dieses wurde zwar in völliger Verdrehung der historischen Bedeutung dieses Wortes als „sozialistisch“ bezeichnet, aber so lautete eben die Selbsteinschätzung der stalinistischen Eliten.

Beschlossen wurden entsprechend weit greifende Veränderungen: die forcierte Militarisierung mit dem weiteren Aufbau der Staatssicherheit und der Kasernierten Volkspolizei, eine noch stärkere Politisierung der Justiz sowie die beschleunigte Kollektivierung der Landwirtschaft.

Oktober – Dezember 1952

Nach der 2. Parteikonferenz der SED verschlechterte sich die Versorgungslage deutlich. Der Handel konnte die Versorgung mit Butter, Margarine, Fleisch, Gemüse und Zucker nicht mehr sicherstellen. Der Abbau von Preissubventionen wirkte sich als Preissteigerung aus. Die SED-Propaganda machte für die Versorgungsprobleme den Großhandel und die Großbauern verantwortlich, aber nicht die verfehlte und kopflose Politik der Regierung. In mehreren Betrieben kam es schon zu Streiks oder Protestaktionen.

Frühjahr 1953

Zunehmende Repression gegen politisch Andersdenkende und den Mittelstand, verstärkter ideologischer Anpassungsdruck, der Kirchenkampf und die eskalierenden wirtschaftlichen Probleme führten zu einem dramatischen Anstieg der Flüchtlingszahlen, die im Frühjahr 1953 Höchstwerte erreichten. Im Spitzenmonat März waren es fast 60.000.

Am 5.3.1953 starb Stalin. Mit dem Tod des „roten“ Zaren begann auch das ganz auf seine Person zugeschnittene Macht- und Staatssystem zu wanken, zuallererst allerdings in den Sattelitenstaaten, und hier vor allem Deutschland.

Das stalinistische Politikverständnis kannte keine Selbstorganisation der Arbeiterklasse und sah „Sozialismus“ in seinem Sinne lediglich und einzig verwirklicht durch Verstaatlichung, bürokratische Kommandowirtschaft und Zwangskollektivierung („Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“). Allerdings: diese Maßnahmen hatte Stalin 1929-1938 im rückständigen Russland durchgeführt (darin durchaus Iwan dem Schrecklichen vergleichbar, der mit Knute und Opritschina die archaische Bojarenherrschaft zerschlug). Die DDR mit den ehemaligen KPD- und SPD – Hochburgen Sachsen und Ostberlin war aber ein ganz anderes Pflaster.

Die Mittelklassen (Bauern, Handwerk, Kleinhandel) wurden durch die brutalen Enteignungsmaßnahmen massenhaft in die Flucht getrieben. Die Arbeiterschaft wurde vor allem durch den wuchernden Polizeistaat in den Widerstand getrieben. Hatte nicht die Arbeiterbewegung 12 Jahre in der Illegalität dem NS – Polizeistaat ausharren müssen?

Hinzu kamen gravierende Planungsfehler und Schlampereien der SED – Führung, die sich im wesentlichen aus willfährigen Apparatschiks der KPD – Auslandsleitung zusammensetzte. Über die Geschichte der KPD möchte ich mich in diesem Artikel nicht ausführlich äußern, nur soviel sei gesagt: mit der KPD der Weimarer Republik hatte diese neue Führungsschicht der SED nicht mehr viel zu tun, in der Zeit der Illegalität und erst recht im 2.Weltkrieg war die KPD vollständig auf Stalin – Linie gebracht worden, die Zahl der ausgeschlossenen oder gar liquidierten oppositionellen Kommunisten geht in die Zehntausende.

Berija, der neue „starke Mann“ im Kreml, fertigte für den 6. Mai 1953 einen Bericht für das ZK-Präsidium der KPdSU an, in dem die angespannte Lage in der DDR kritisch angesprochen wurde: Für die steil ansteigenden Flüchtlingszahlen sei nicht allein die feindliche Propaganda verantwortlich, sondern auch der Zwang, den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften beizutreten, die Furcht vor der Abschaffung des Privateigentums und nicht zuletzt die Schwierigkeiten bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Konsumgütern.

Schwierigkeiten bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Konsumgütern? Tja, was kann man da tun? Vielleicht die Wahrheit sagen und eine breite Debatte in der Arbeiterschaft über sinnvolle Rationalisierungen führen? (Ich erwähne am Rande, daß es sich in diesem Falle nicht um Abbau von Arbeitsplätzen, sondern um Effektivierung der Produktion gehandelt hätte).

Ach wo, das wäre ja auf Arbeiterkontrolle hinausgelaufen.

Überzeugt von der Richtigkeit seiner Politik und der Lehren Stalins sprach sich das Zentralkomitee der SED am 14. Mai 1953 auf seinem 13. Plenum für eine generelle und bindende Erhöhung der Arbeitsnormen um mindestens 10 Prozent aus. Als Endtermin für die Umsetzung wurde der 30. Juni festgelegt, Walter Ulbrichts Geburtstag. Das war typisch stalinistisches Politikverständnis in Reinform: die Arbeiterklasse wurde ja schließlich durch die SED „vertreten“ und hatte selbstverständlich nicht mitzureden.

Es gab also tatsächlich einen Kursschwenk: zugunsten der Mittelklassen und der Bauern, aber zuungunsten der Arbeiter, deren Arbeits – Normen erhöht wurden.

Das sowjetische Innenministerium übergab am 15. Mai 1953 an den Deutschlandexperten des sowjetischen Außenministeriums W. Semjonow ein Memorandum, das einen Kurswechsel ankündigte: keine neuen Gründungen von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, Erweiterung der Kosumgüterproduktion und Lockerung der Repressionspolitik.

Was die LPGs angeht, so sei erwähnt, daß es sich nicht etwa – was ja vernünftig gewesen wäre – um freiwillige Zusammenschlüsse gehandelt hatte, sondern um Zwangskollektivierungen im Sinne der stalinistischen Sowchosen (Staatsbetriebe) in Russland ab 1929.

Der Bericht des Vorsitzenden der Sowjetischen Kontrollkommission (SKK) General W. I. Tschuikow an das Präsidium des ZK der KPdSU am 18. Mai 1953 enthielt eine implizite (versteckte) Kritik an den politischen Maßnahmen der SED seit der 2. Parteikonferenz. Die vorgeschlagenen Maßnahmen bedeuteten eine weitgehende Rücknahme der Politik des „planmäßigen Aufbaus des Sozialismus“ in der DDR, will heißen: Ausbau eines totalitären stalinistischen Staates.

Das „Neue Deutschland“ veröffentlichte am 28. Mai 1953 den am 14. Mai 1953 auf dem 13. Plenum des Zentralkomitees der SED gefassten Beschluss zur Erhöhung der Arbeitsnormen um mindestens 10 Prozent. Um die Bedeutung dieses Aktes zu verdeutlichen: es handelte sich um eine nicht mit der Arbeiterschaft abgesprochene gravierende Akkorderhöhung. Typische Kommandowirtschaft mit allen daraus hervorgehenden Konsequenzen.

Die SED-Politbüromitglieder Walter Ulbricht, Otto Grotewohl und der Chefideologe der Partei, Fred Oelßner, wurden zu Geheimberatungen (!!) vom 2. – 4. Juni 1953 nach Moskau bestellt. Hier wurde ihnen das Memorandum „Über Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik“ übergeben, in dem der 1952 von Stalin veranlasste politische Kurs von seinen Erben im Kreml zurückgenommen wird. Die Delegation kehrte mit der strikten Auflage nach Ostberlin zurück, die Krise in der DDR durch eine Revision des bisherigen politischen Kurses zu entschärfen. Im wesentlichen sollten diese Maßnahmen den Auswandererstrom aufhalten, die bürokratische Weise ihrer Umsetzung aber provozierte den Widerstand der nominell „herrschenden Klasse“ in der DDR, nämlich der Arbeiterschaft.

Das Politbüro der SED übte am 9. Juni 1953 offiziell Selbstkritik. Der „Neue Kurs“ wurde verkündet. Die erhöhten Arbeitsnormen blieben jedoch bestehen, sie sollten ja die prekäre Versorgungslage abfangen helfen.

Ministerpräsident Otto Grotewohl traf am 10. Juni 1953 mit führenden Vertretern der evangelischen Kirche zusammen, um für eine „Wiederherstellung eines normalen Zustandes zwischen Staat und Kirche“ zu sorgen. Den bisher drangsalierten Mittelschichten wurden nun Zugeständnisse gemacht.

Der „Neue Kurs“ wurde als Kommuniqué des Politbüros im „Neuen Deutschland“ veröffentlicht. Die Parteibasis war angesichts der Hundertachtzig-Grad-Drehung verwirrt, die Bevölkerung empfand den Kurswechsel überwiegend als Eingeständnis der Schwäche, teilweise auch als politische Bankrotterklärung.

Auf der Berliner Großbaustelle Krankenhaus Friedrichshain war am 12. Juni 1953 erstmals von Streik die Rede. Am Montag, dem 15. Juni, wollten die Transportbrigade der Baustelle und mindestens eine Maurerbrigade wegen der zehnprozentigen Normenerhöhung in den Streik treten. Vermutlich hätten Arbeiter in Westdeutschland bei einer solchen Akkorderhöhung auch zum Mittel des Warnstreiks gegriffen. Die Reaktion der Berliner Arbeiter war nichts anderes als traditionell.

Auf einem Betriebsausflug der Bauarbeiter der Großbaustelle Krankenhaus Friedrichshain am 13. Juni 1953 kündigte der Brigadier Metzdorf für den kommenden Montag einen Streik der Bauarbeiter an.

15. Juni 1953

Die Arbeiter der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain weigerten sich die Arbeit aufzunehmen. Auf dieser Baustelle waren besonders viele Arbeiter SED – Mitglieder und entstammten KPD – oder SPD – Organisationen. Es handelte sich also um besonders sozialistisch gesinnte („klassenbewußte“) Arbeiter. Auf der um 9.00 Uhr beginnenden Belegschaftsversammlung wurde die Forderung der Bauarbeiter nach einer Rücknahme der Normenerhöhung zurückgewiesen. Betriebs- und Bauleitung bemühten sich vergeblich, die Arbeiter zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen.

Der BGL-Vorsitzende Max Fettling und ein Mitglied der SED-Kreisleitung Berlin-Friedrichshain verfassten unter Druck der Arbeiter eine Resolution gegen die Normenerhöhung an die Regierung, die Fettling für die Bauarbeiter und in deren Namen unterzeichnete. Von der Resolution wurden mehrere Durchschriften gefertigt: Eine Bauarbeiterdelegation brachte daraufhin eine davon zum Büro des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl. Die anderen kursierten auf verschiedenen Baustellen und in Ostberliner Betrieben, insbesondere auf den Baustellen der Stalinallee.

Eskalation am 16. Juni

Am 16. Juni 1953 bezeichnete die Tageszeitung der DDR-Gewerkschaft „Tribüne“ die Normenerhöhung als falsch, sie „könne aber nicht mehr zurückgenommen werden“. Die Bauarbeiter auf der Baustelle des Krankenhauses Friedrichshain streikten weiter, während Betriebs- und Gewerkschaftsleitung versuchten, die Arbeiter zu beruhigen. Nachdem der Direktor des Krankenhauses die großen Zufahrtstore zur Baustelle zusperren ließ, verbreitete sich das Gerücht, die Volkspolizei habe die Baustelle umstellt. Das brachte das Faß zum Überlaufen.
Gegen 8.30 Uhr bildete sich auf der Baustelle Block 40 an der Stalinallee ein Demonstrationszug von mehreren Hundert Arbeitern, die zum Krankenhaus ziehen, um ihre Kollegen „zu befreien“. Sie brachen dasTor auf und besetzten den Bauplatz. Als der Demonstrationszug wieder abzog, hatte sich ihm etwa die Hälfte der Arbeiter des Krankenhausneubaus angeschlossen. Die Demonstration zog durch die Innenstadt weiter und klapperte zahlreiche Baustellen der Innenstadt ab, um die dortigen Bauarbeiter für den Streik zu gewinnen.

Ein typischer Stimmungsausdruck ist folgender Streikbeschluß einer Baustelle der Stalinallee:

„Der Streik ist das gewerkschaftliche Kampfmittel zur Durchsetzung berechtigter Forderungen.

Wir fordern:

1. Volle Sicherheit für die Sprecher des Streiks.

2. Freie Rede und Pressefreiheit.

3.Weg mit den Normen.

4. Einen Lohn, der den Preisen in der DDR entspricht, Revidierung des gesamten Preisniveaus für Lebensmittel und Gebrauchsgüter.

5. Freie Wahlen für ganz Deutschland.

6. Weg mit den Zonengrenzen.

7. Abzug der Besatzungstruppen.

8. Weg mit der kasernierten Volkspolizei.

9. Sofortige Wiedereinführung der 75%igen Ermäßigung bei Arbeiterrückfahrten.

10. Freilassung aller politischen Häftlinge, auch die zu Strafen über drei Jahren verurteilt worden sind.

11. Rückführung sämtlicher Kriegsgefangenen.

12. Fortfall der Volkskontrollen.“

Am Nachmittag versammelten sich über 10000 Demonstranten vor dem Haus der Ministerien in der Leipziger Straße. Schon um 10.00 Uhr hatte die routinemäßig einberufene Sitzung des Politbüros begonnen, an der auch der Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser teilnahm. Die Sitzung wurde unterbrochen, als die Demonstranten in der Leipziger Straße ankamen. Den Ernst der Lage erkannten die Bürokraten jedoch nicht. Sie beschlossen lediglich die Rücknahme der Normenerhöhung und waren der Auffassung, die Angelegenheit wäre damit erledigt.

Vor dem Haus der Ministerien versuchte Industrieminister Fritz Selbmann zu den versammelten Arbeitern zu sprechen, die sich aber inzwischen radikalisiert hatten. Sie forderten den Rücktritt der Regierung und freie Wahlen. Es kam zum Aufruf zum Generalstreik. Bei dem Disput mit den Arbeitern berief sich Selbmann auf seine Vergangenheit und betonte, daß er ja früher auch Arbeiter gewesen sei und deshalb den Unmut der Arbeiter verstünde. Daraufhin gab es Zwischenrufe, wie: „Das hast du aber vergessen (…) Du bist kein Arbeiter, du bist ein Arbeiterverräter!“ oder: „Die wahren Kommunisten seid nicht ihr, sondern das sind wir!“.

Als um etwa 15.00 Uhr die Rücknahme der Normenerhöhung bekannt gegeben wurde, konnte das die demonstrierenden Arbeiter nicht mehr zufrieden stellen. Einige andere, auch später und andernorts verwendete Parolen waren:
„Wir sind Arbeiter und keine Sklaven“

„Wir sind Arbeiter, ihr seid Arbeitersöhne. Heute sind wir alle gleich.“

„Die Verteidigung des Arbeiters muß der Arbeiter selbst in die Hand nehmen.“

„Weg mit den Normen“

„Weg mit der Volkspolizei“

„Wir fordern den Rücktritt der Regierung Ulbricht-Grotewohl“

„Wir fordern Normen- und Preissenkung“,

„Spitzbart muß weg!“ (gemeint war der stalinistische Apparatschik Ulbricht)

„Weg mit der SED-Knechtschaft“

usw.

Über einen „requirierten“ Lautsprecherwagen verbreiteten die Demonstranten ihre Forderung nach dem Rücktritt der Regierung, sie riefen zum Generalstreik und zu einer weiteren Demonstration am kommenden Morgen auf. Treffpunkt sollte der Strausberger Platz sein.

Gegen 14.30 Uhr trafen Abgesandte der Streikenden im Westberliner DGB-Haus und im RIAS-Funkhaus ein, sie wollten ihre Forderungen und den Aufruf zum Generalstreik selbst über die Mikrofone des Senders verbreiten, was ihnen aber verwehrt wurde. Der RIAS berichtete um 16.30 Uhr das erste Mal ausführlich über die Ostberliner Tagesereignisse.

Einige der Forderungen der Streikenden sendete der RIAS um 19.30 Uhr, aber ohne den Aufruf zum Generalstreik zu erwähnen. Es gab eine Weisung, auf keinen Fall den Aufruf zum Generalstreik über Radio zu senden.

Der 17. Juni 1953

Die Entscheidung über das Eingreifen sowjetischer Truppen wurde am Abend des 16. Juni in Moskau getroffen. Daraufhin werden die sowjetischen Verbände in Richtung Berlin in Marsch gesetzt. In der Nacht vom 16. zum 17. fanden sich Ulbricht, Grotewohl und Staasicherheitsminister Zaisser am Sitz der Sowjetischen Militäradministration in Berlin-Karlshorst ein, um mit Hochkommissar Semjonow und dem Oberbefehlshaber der sowjetischen Besatzungstruppen in der DDR Andrej Gretschko das Eingreifen der Polizei-, Militär- und Sicherheitsapparate vorzubereiten.

In den frühen Morgenstunden ist der gesamte ostdeutsche Polizei- und Sicherheitsapparat in höchste Alarmbereitschaft versetzt. In der MfS-Zentrale in der Normannenstraße nimmt der zentrale Leitungsstab für Berlin unter der Leitung von Staatssicherheitsminister Zaisser die Arbeit auf. Für die Polizeikräfte formieren sich Einsatzleitungen im Polizeipräsidium und im Innenministerium. Die Einsatzstäbe handelten unkoordiniert, teilweise sogar gegeneinander.

Um 5.36 Uhr sendete der RIAS erstmals den Aufruf des DGB-Vorsitzenden Ernst Scharnowski an die Ostdeutschen: Sie sollen ihre „Strausberger Plätze überall“ aufsuchen. Ab 6.00 Uhr weitete sich die Streikbewegung in Ostberlin über alle Stadtbezirke aus. Fast alle Baustellen und Betriebe wurden bestreikt, Demonstrationen formierten sich in zahlreichen Stadtteilen und bewegten sich in Richtung Strausberger Platz. Um 7.00 Uhr waren am Strausberger Platz 10.000 Menschen versammelt.

Am Morgen des 17. Juni brachen 12.000 Hennigsdorfer Stahlarbeiter und 16.000 Arbeiter der Reichsbahnunion Velten auf und marschierten – trotz strömenden Regens – stundenlang von Hennigsdorf durch die Westberliner Arbeiterbezirke Wedding und Reinickendorf bis in die Ostberliner Innenstadt. Die Hennigsdorfer marschierten in strömendem Regen 27 km von ihrem Stahlwerk nach Berlin, viele davon in Arbeitskluft oder mit schlechtem oder ohne Schuhwerk. Eine ihrer Parolen war: „Wir sind so sehr verbittert, daß uns der Regen nicht erschüttert!“.

Auf ihrem Weg rissen sie die Sektorenschilder nieder und stellten die Forderung „Weg mit den
Zonengrenzen!“ auf.

Aus Hennigsdorf bewegte sich ein riesiger Demonstrationszug durch Westberlin auf die Ostberliner Innenstadt zu. Die Henningsdorfer Arbeiter forderten „Wir wollen freie Menschen sein“. An die Adresse der Kollegen in Westdeutschland gerichtet wurde skandiert:

„Räumt Euren Mist in Bonn jetzt aus, in Pankow säubern wir das Haus!“

Und die Arbeiter grenzten sich sowohl gegenüber West- wie Ostbindung ab:

„Fort mit Ulbricht und mit Adenauer, wir reden nur mit Ollenhauer!“

Ollenhauer war damals ein populärer Führer der westdeutschen SPD. Die SPD in der BRD verfocht damals noch einen Kurs gegen Westintegration und Wiederbewaffnung (wovon heute keine Spur mehr).

Es wurden Umrisse einer Arbeiter – Bewegung sichtbar, die sich sowohl gegen Stalinismus als auch gegen Kapitalismus richtete und auf dieser Grundlage nach einer deutschen Einheit strebte.

Trotz Absperrungen durch die Volkspolzei versammelten sich am Strausberger Platz rund 20.000 streikende Bauarbeiter. Im Verlauf des Vormittags traten weitere Arbeiter wichtiger Produktionsbetriebe in den Ausstand: die der (Ost-) Berliner AEG, Kabelwerk Oberspree, Bergmann-Borsig-Werke, Stalin Werk Treptow, Osram Glühlampenwerk, der Schlachthof, Kraftwerk Klingenberg u.a. Selbst die Setzer und Metteure des Dietz-Verlages streikten und marschierten. Ab 10 Uhr streikte das größte Ausbesserungswerk der Reichsbahn in der Revaler Straße. Die S-Bahn wurde um 11 Uhr stillgelegt. Die Reichsbahner schlossen sich in ihrer Mehrheit den Aufständischen an. Ab 12 Uhr stellte auch die BVG (Ost-)Berlins ihren gesamten Verkehr ein. Die Demonstrationen der Arbeiter (es sollen an diesem Tag allein in Berlin rund 100.000 Arbeiter auf die Straße gegangen sein; nach einer Analyse des ZK beteiligten sich Teile der Belegschaften aller großen Berliner Betriebe) bestimmten vollkommen das Bild der Berliner Straßen am 17. Juni.

Ein Beobachter der Ereignisse am Vormittag des 17. Juni berichtete: „Aus den Betrieben ergossen sich mit dem gewaltigen Strom der Streikenden aus Velten und Hennigsdorf zu einem großen brodelnden Meer. Der Höhepunkt der Ostberliner Erhebung wurde mit einer gewaltigen Massenkundgebung von 15.000 Hennigsdorfer und Ostberliner Metallarbeitern im Walter-Ulbricht-Stadion erreicht. Eine überdimensionale Statue des SED-Generalsekretärs wurde gliedweise zerrupft. Sprechchöre deklamierten „Pankow pleite – neue Leute – noch heute!“ „.

Auf der Kundgebung im Walter-Ulbricht-Stadion wurde die Konstituierung von Arbeiter-Organen diskutiert. Das Streikkomitee sollte auch mit politischen Funktionen betreut werden. Damit begann die Bewegung die rein ökonomische Ebene (Rücknahme der Normen) zu überschreiten. Als Keim wurden die Umrisse einer antistalinistischen und antikapitalistischen Revolution sichtbar, die an die Rätebewegung von 1918 anknüpfte, auch wenn die Regierung sich selbst als „Arbeiter- und Bauernregierung“ bezeichnete.

Aber ehe organisatorische und selbstorganisatorische Fragen ausdiskutiert werden konnten, wurde der Befehl des sowjetischen Stadtkommandanten Generalmajor Dibrowa bekannt, der den Ausnahmezustand für (Ost-) Berlin verkündete. Bis zur Erteilung dieses Befehls um 13 Uhr waren seit Beginn des Generalstreiks 6 Stunden vergangen. Aber selbst nach dem verhängten Ausnahmezustand demonstrierten rund 150.000 Arbeiter durch (Ost-)Berlin.

In (Ost-)Berlin war die Volkspolizei zu keinem Zeitpunkt Herr der Lage. Die Sowjetarmee bewahrte die Ulbricht-Regierung vor dem unausweichlichen Sturz. Der Staats- und Parteiapparat war sozusagen paralysiert und die Stadt stand unter sowjetischem Kriegsrecht. Erst mit Verhängung des Ausnahmezustandes durch die Russen gewann die Staatsmacht die Initiative zurück, da die aufständischen Arbeiter es nicht geschafft hatten eine wirkliche organisierte Gegenmacht, welche der VP und auch den russischen Soldaten hätte effektiven Widerstand leisten können, zu schaffen. Was in der Kürze der zeitlichen Entwicklung auch nicht verwunderlich war.

„Die ganzen Aktionen hatten ständig den Eindruck des Spontanen; alles war improvisiert, sonst hätte auch alles besser geklappt. (…) Es ist die Katastrophe, daß keine Organisation und nichts da war.“ (Zeitzeuge)

Doch die Konter – Revolution war bereits im vollen Gange und folgte einer Doppelstrategie: den ökonomischen Forderungen der Bewegung wurde in vollem Umfang nachgegeben, aber die entstandene Führung der Bewegung wurde erbarmungslos verfolgt. Im „Neuen Deutschland“ wurde der Beschluss des Politbüros zur Rücknahme der Normen veröffentlicht, während sowjetische Panzer in Berlin einrückten. Gegen 10.00 Uhr zog sich die SED-Führung, darunter auch Staatssicherheitschef Zaisser, auf Weisung von Semjonow nach Karlshorst zurück.

Die ersten Einheiten der sowjetischen Besatzungsmacht erreichten am Morgen schon den Alexanderplatz und die Hauptstraßen der Innenstadt, sie postierten sich an Knotenpunkten, öffentlichen Gebäuden und an der Sektorengrenze.
Gegen 11.00 Uhr protestierten in Ostberlin über 150.000 Menschen. Immer wieder kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizisten. Der öffentliche Verkehr wurde eingestellt, Bahnen und Busse fuhren nicht mehr. Gegen 12.00 Uhr räumten sowjetische Panzer in Schrittgeschwindigkeit Straßen und Plätze, es fielen Schüsse. Ab 13.00 Uhr verhängte die Sowjetische Besatzungsmacht den Ausnahmezustand über Ostberlin. „Rädelsführer“ werden verhaftet.

Nach dem Einsatz der sowjetischen Armee wurden die Auseinandersetzungen immer aggressiver. Mehrmals räumten die sowjetischen Kampfverbände die Innenstadt. Die Protestbewegung bröckelte. Gegen 19.00 fielen im Ostberliner Zentrum die letzten Schüsse.

Bereits seit dem Morgen nahmen sogenannte Operativgruppen der Staatssicherheit Streikende und Demonstranten fest. Auch sowjetische Militärstreifen und Polizeieinheiten verhafteten Aufständische. Damit begann die größte Festnahmewelle in der 40-jährigen Geschichte der DDR.

Außer in Ostberlin kam es in über 700 Städten und Gemeinden der DDR zu Demonstrationen und Streiks. Über 167 Land- und Stadtkreise verhängte die sowjetische Militäradministration den Ausnahmezustand.

Die Aufständischen befreiten in der gesamten DDR Häftlinge und erstürmten öffentliche Gebäude, darunter MfS-Kreisdienstellen, SED-Bezirksleitungen, SED- und FDGB-Gebäude, Volkspolizei-Reviere, Kreisratsämter und Gemeinderäte.

Danach

Der stellvertretende Minister der Staatssicherheit, Erich Mielke, wies am 18. Juni 1953 per Blitzfernschreiben alle Stasi-Diensteinheiten an, „energisch zu handeln“ und „Hetzer, Provokateure, Saboteure, Rädelsführer und andere Elemente“ festzunehmen. Willy Göttling, Alfred Dartsch und Herbert Stauch wurden wie viele andere von der sowjetischen Besatzungsmacht standrechtlich erschossen. Der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain, Max Fettling, wurde als „Drahtzieher“ des Streiks verhaftet (der arme Kerl hatte nur versucht, den Unmut zu kanalisieren).

Am 20. Juni 1953 wurde bei der Generalstaatsanwaltschaft der DDR ein Operativstab gebildet, um die Strafverfahren bei Anklagen gegen Teilnehmer des 17. Juni zu koordinieren und anzuleiten. Eine offiziellen Entschließung des 14. Plenums am 21. Juni 1953 des Zentralkomitees der SED bezeichnete das dramatische Geschehen am 17. Juni als „von langer Hand vorbereiteter Tag X“. Der Volksaufstand wurde zu einem vom Westen gelenkten „faschistischen Putsch“ erklärt. Das blieb die offizielle Lesart bis zum Untergang der SED.

Unmittelbar im Anschluß fand eine Prozeßwelle mit zahlreichen Todesurteilen statt. So wurde am 22. Juni 1953 vom 1. Strafsenat des Bezirksgerichts in Halle an der Saale Erna Dorn wegen aktiver Beteiligung an den „Ausschreitungen des 17. Juni“ zum Tode verurteilt.

Erst am 25. Juni 1953 hob die sowjetische Besatzungsmacht den Ausnahmezustand für die DDR auf. Davon ausgenommen blieben vorläufig die Städte Berlin, Magdeburg, Halle, Potsdam, Görlitz, Dessau, Merseburg, Bitterfeld, Cottbus, Dresden, Leipzig, Gera und Jena. Der Ausnahmezustand für die Städte Dresden, Cottbus und Potsdam wurde am 29. Juni 1953 aufgehoben.

Der Leiter des sowjetischen Geheimdienstes und Minister des Innern, Lawrentij P. Berija, wurde am 26. Juni 1953 in Moskau verhaftet und sämtlicher Posten enthoben. Das „Tauwetter“ war nur kurz gewesen.

Im Juli 1953 begann trotzdem eine zweite Streikwelle in der DDR, die in mehreren großen Betrieben ausbrach. In den Buna-Werken überstieg die Streikbewegung vom 15. bis 17. Juli 1953 sogar die Streiks vom 17. Juni.

Weil er sich in einem Interview des „Neuen Deutschlands“ am 30. Juni 1953 gegen eine Strafverfolgung der streikenden Arbeiter des 17. Juni ausgesprochen hatte, wurde Justizminister Fechner am 15. Juli 1953 als „Feind des Staates und der Partei“ seines Amtes enthoben, aus der SED ausgeschlossen, verhaftet und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.

Am 18. Juli 1953 entließ das Politbüro der SED Wilhelm Zaisser als Minister für Staatssicherheit. Neuer Chef der Staatssicherheit wird Ernst Wollweber, bisher Staatssekretär für Schifffahrt im Verkehrsministerium

Auf dem 15. Plenum des ZK der SED 24. – 26. Juli 1953 wird auf Betreiben Walter Ulbrichts ausführlich das Versagen der Staatssicherheit und nicht etwa von Politbüro und Regierung thematisiert. Wilhelm Zaisser und der Chefredakteur des „Neuen Deutschlands“ Rudolf Herrnstadt werden aus dem Politbüro entfernt und sämtlicher Parteifunktionen entbunden.

Auf Anweisung Wollwebers wurden am 7. August 1953 im Staatssekretariat für Staatssicherheit und in den Bezirksverwaltungen so genannte Informationsgruppen gebildet, um die täglich anfallenden Informationen zu filtern und zu verdichten. Am 3. September 1953 erging eine Dienstanweisung der Staatssicherheit zum qualitativ und quantitativen Ausbau des Spitzelnetzes. Ende Oktober 1953 wurden von der Staatssicherheit im Zuge der Aktion „Feuerwerk“ ca. 100 Personen wegen Agententätigkeit festgenommen.

Am 9. Dezember 1953 erfolgte der Beschluss zur Bildung der Betriebs-Kampfgruppen als eine unmittelbare Folge des Juni-Aufstandes.

In der Sowjetunion wurde am 23. Dezember 1953 infolge innerstalinistischer Fraktionskämpfe der ehemalige Staatssicherheitschef Lawrentij P. Berija hingerichtet. Es sollte noch drei weitere Jahre dauern, bis Chrustschow in seiner legendären Geheimrede Stalins Verbrechen vor der Elite der KPdSU anprangerte.

In den folgenden Jahren wurden noch zahlreiche Menschen in der DDR wegen ihrer Beteiligung an der Juni – Bewegung verurteilt, während gleichzeitig Säuberungskampganen in der SED diese von „schwankenden“ und „unzuverlässigen“ Elementen säuberte.

Ein makabres Schauspiel fand am 26. Mai 1954 im Stadtgericht Berlin statt: die Hauptverhandlung gegen den am 18. Juni 1953 verhafteten Max Fettling in Anwesenheit einer Abordnung von 60 Bauarbeitern der Stalinallee. Das Urteil lautete für Fettling zehn Jahre Zuchthaus, acht Jahre für die Mitangeklagten Karl Foth und Otto Lemke und vier Jahre für den Maurer Berthold Stanike, obwohl sich keiner der Verurteilten wirklich als Streikführer hervorgetan hatte. In Anwesenheit von Presse, Film und Funk sowie ausgewählter Betriebsdelegationen wurden 10. – 14. Juni 1954 vom Obersten Gericht in Ostberlin vier „Hintermänner des Tages X“ zu unverhältnismäßig harten Strafen verurteilt. Die Verurteilten waren Mitglieder des Westberliner Komitees 17. Juni, die im Rahmen der Stasi-Aktion „Ungeziefer“ von West- nach Ostberlin entführt wurden.

Am 14. – 17. Juni 1954 traf die Staatssicherheit vorbeugende „Sicherungsmaßnahmen“, um auf den ersten Jahrestag des Juni-Aufstandes vorbereitet zu sein. Auch in den Folgejahren wurden entsprechende Vorkehrungen getroffen.

Diese Repressionsmaßnahmen waren insgesamt erfolgreich, die Erinnerung an den 17. Juni wurde so weit aus dem Gedächnis der DDR – Bevölkerung getilgt, daß sich die Bewegung November 1989 nicht mehr auf die Juni – Bewegung bezog. Für die große Mehrheit dieser Bewegung existierte nur die Alternative Stalinismus oder Kapitalismus, und in Anbetracht der abgewirtschafteten Honecker-Führung blieb nur Kohls Verlockung von „blühenden Landschaften“.

Beurteilung des 17. Juni durch den Stalinismus und Poststalinismus

Für die von der DDR politisch und finanziell abhängigen Organisationen rund um die DKP war der 17. Juni eine klare Sache: es handelte sich um eine von westlichen Geheimdiensten gesteuerte Konterrevolution.

Mir persönlich versicherten in den 70er Jahren DKP – Mitglieder immer wieder, der Aufstand vom 17. Juni wäre durch DDR – „Betriebskampfgruppen“ niedergeschlagen worden. Doch die Betriebskampfgruppen, die wohl eine Art Nachäffung der historischen Arbeitermilizen von 1918 durch die stalinistische Bürokratie darstellen sollten, wurden in der DDR erst nach dem 17. Juni 1953 eingerichtet, also erst nach dem Aufstand.

Beurteilung des 17. Juni durch westliche Geheimdienste

Die SED – Bürokratie wußte es selbst auch besser, denn schon im November 1953 fielen der Stasi Dokumente der westlichen Geheimorganisation Gehlen in die Hände, die ein solches Ausmaß der Westler an Ahnungslosigkeit und Handlungsunfähigkeit offenbarten, dass die These einer westlichen Steuerung des Aufstands damit eigentlich hätte erledigt sein müssen.

In einem der Dokumente datiert vom 20. Juni 1953 wurden die „Vorgänge in Ostberlin und der Zone“ als „von östlicher Seite inszenierte Aktionen“ bezeichnet, die das Ziel gehabt hätten, die Wiedervereinigung „ins Rollen zu bringen“. In dieser Zeit trat nämlich die KPD in der BRD im Rahmen einer „Volkskongreß“ – Kampagne für die deutsche Wiedervereinigung auf entmilitarisierter, neutraler Grundlage ein.

Ganz offensichtlich passte das spontane Entstehen der Streikbewegung genauso wenig in das Weltbild der westdeutschen Nachrichtendienstler wie in das der DDR-Sicherheitsorgane.

Kein Wunder, daß die Bewegung des 17. Juni dem Imperialismus ausgesprochen unheimlich war. Das hinderte die Propaganda später allerdings nicht, diese Bewegung in ihrem Sinne zu vereinnahmen.

Ein disziplinierter Arbeiteraufstand

Kern der Bewegung waren also keine deutschtümelnden Westagenten, sondern Arbeiter in der Tradition von KPD und SPD. Unter den Arbeitern der Stalinallee waren sogar ausgesprochen viele SED – Basismitglieder.

Nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Orten wie in Merseburg herrschte Disziplin und aus Lautsprecherwagen wurden die Demonstrierenden aufgefordert, alles Privateigentum zu schonen, kein HO-Geschäft, keinen Konsumladen zu zerstören und die Besatzungsmacht nicht anzugreifen. In Jena setzten sich Frauen auf die Straße, um russische Panzer aufzuhalten und Demonstranten schoben Straßenbahnwagen vor die Panzer auf die Straße.

In vielen Städten zeugten die Taten der Arbeiter von hoher Disziplin in der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung. Sie blieben solange friedlich wie es ihnen möglich war. Als willkürliche Verhaftungen erfolgten, sich Vopos mit Waffen in der Hand entgegenstellten oder wie auch die russischen Soldaten und Panzer in die Menge schossen, wehrten sich die Arbeiter, die sonst die Vopos lediglich verprügelt oder noch viel öfter entwaffnet und die Waffen zerstört hatten. Die Streikenden vernichteten die übliche SED-Propaganda, ließen aber Karl-Marx-Bilder und Aussprüche von Marx unbeschädigt. Es gab kaum Plünderungen. Als die Arbeiter jemanden bemerkten, der stehlen wollte, verprügelten sie ihn.

Nur entlang der Grenze zu Westberlin ist es wohl zu Übergriffen rechtsgerichteter Jugendlicher gekommen, die aus dem Westen in den Osten gekommen waren. Insgesamt war es aber ein disziplinierter Streik. In Berlin traten demonstrierende Arbeiter Plünderern entschlossen entgegen und verhinderten die Zerstörung von Ladeneinrichtungen, so z.B. in der Leipziger Straße.

Daß viele Arbeiter ein hohes Klassenbewußtsein hatten, davon zeugte auch die kurze Rede des Arbeiters Walter aus dem Hydrierwerk Zeitz auf einer Betriebsversammlung vom 16. April 1953:
„Der Arbeiter Walter erhob sich und sagte: „Kollegen, was sich jetzt bei uns tut, ist für uns als Arbeiter beschämend. Siebzig Jahre nach dem Tode von Karl Marx müssen wir noch über die elementarsten Lebensbedürfnisse debattieren. Wenn Karl Marx das ahnte, würde er sich im Grabe umdrehen.“ Ein anderer Angestellter mit Namen Engelhardt erhob sich und rief in die Versammlung: „Wir wollen leben wie die Menschen, weiter wollen wir nichts.“ Der Arbeiter Meyer fragte: (..) wieviel Prämie hat der Funktionär Kahnt erhalten und was hat er produziert?“ „.

In Görlitz sprach am 18.6.53 ein Arbeiter vom Lowa-Werk I:

„Gestern haben wir zum ersten Mal erlebt, daß wir nicht allein sind. Wir haben immer geglaubt, daß es zwar viele Unzufriedene und Gegner dieses Staates gibt. Wir haben aber nicht gewußt, daß achtzehn Millionen Menschen so denken wie wir. Wir haben auch niemals geglaubt, daß wir mit leeren Händen, ohne Waffen und ohne Plan, etwas gegen die Gewalt dieses Staates erreichen können. Seit dem 17. Juni 1953 wissen wir, daß wir sehr stark sind, ja, daß wir unüberwindlich sind, wenn wir zusammenhalten und einig sind gegen dieses System der Gewalt, des Terrors, der Unterdrückung und der Ausbeutung. Das ist der Sinn und das ist der Gewinn des 17. Juni 1953.“

Erschienen in www.linkezeitung.de

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